Ich denke, jeder Mensch hat das Urverlangen zu singen. Gesang ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit.
Und doch wagen es die Wenigsten, das zu tun, was im Prinzip ein Lebenselixier ist: ein Lied zu schmettern.
Im Kindesalter trauen sich viele von uns noch. Aber die vielen Casting Shows, die wir im Fernsehen verfolgen
können, geben uns das Gefühl, dass Singen nur etwasfür Fernsehstars ist. So entwickeln wir frühzeitig eine Gesangsblockade.
Dabei wirkt Singen wie eine Glücksdroge: Beim Trällern schüttet der Körper Glückshormone aus, genau wie beim Sport
oder (gutem) Sex. Wer singt, hat ein probates Mittel gegen Stress, Depression und Herzschmerz, gegen Bosheit und
schlechte Laune.
Dabei muss der Singende oder Tönende nicht talentiert oder geübt sein. Lautes Mitgrölen zu einem
Lieblingslied tut es auch. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die positive Wirkung von aktivem Musizieren und
Singen unvermeidlich ist – sogar wenn man Vorbehalte hat. Es gibt Menschen, die trinken Alkohol, um sich gut zu fühlen.
Es gibt welche, die nehmen Drogen, rauchen oder essen zu viel. Ich singe. Singen ist heilsam, macht glücklich, gesund
und kostet keinen Pfennig!
Es ist wie mit dem Lächeln: Wenn Du nur mit Deinem Gesicht lächelst, nicht aber innerlich, fängt das Nervensystem an
zu glauben, dass es Dir gut geht. Diese Information wird an das Gehirn übermittelt. Automatisch geht es Dir besser.
Fakt ist, dass sich viele Menschen schämen (laut) zu singen. Einige glauben, sie könnten es nicht, und beschränken
sich auf fünf Minuten Mick Jagger oder Pavarotti unter der Dusche oder im Auto. Nur hier trauen sie sich, ein
Lieblingslied aus voller Brust mitzusingen und endlich mal richtig den Opernsänger oder Rockstar in sich rauszulassen.
Wer öfter singt, lebt gesünder, ist lebensfroher, zuversichtlicher und tatkräftiger.
Die ehemaligen Sklaven auf den amerikanischen Baumwollfeldern sind ein trauriges, aber ebenfalls beeindruckendes Beispiel.
Das Singen ihrer Lieder half ihnen dabei, sich die harte körperliche Arbeit zu erleichtern und ihr Elend besser zu ertragen.
Im Gesang fanden sie Hoffnung, Kraft und Zusammenhalt. Aus diesen Worksongs - zusammen mit Spirituals und Gospels -
entstanden später Blues und Jazz. Letztlich würde es die gesamte heutige musikalische Popkultur ohne diese Musikarten
nicht gegeben. Auch R&B, Soul, Funk, Hiphop und Rap stammen von diesen African-American-Urgesängen ab.
Man weiß inzwischen auch, dass Singen oder auch Musizieren klüger macht. Dabei bilden sich im Gehirn neue neurologische
Verbindungen. Wenn Du Dir nun überlegst, welches Potenzial unseren Stimmbändern innewohnt, dann haben wir noch alle Chancen,
uns „genial" zu singen. Dabei ist unerheblich, was oder wie perfekt wir singen.
Singen fördert die Gesundheit. Es macht glücklich. Glück wiederum fördert das Immunsystem. Außerdem macht Singen stark,
da es schier unmöglich ist, Angst zu spüren, wenn Du aus Überzeugung singst. Singen im Chor hat ganz besondere Vorzüge:
Während des Singens gleichen sich die Herzfrequenzen der Chorsänger an – ein klares Zeichen von Verbundenheit. Wenn Du
mit anderen zusammen singst, fühlst Du Dich freier, Du wirst Teil des Ganzen und genießt das Zugehörigkeitsgefühl.
Das hat mit Spaß zu tun, mit Frequenzen, Tonwellen und Vibrationen, mit neurologischen Phänomenen und Gehirnwellen.
Auch Du hast die Chance, Dein inneres Strahlen zu finden und in die Welt zu tragen. Das erleichtert Dir Dein Leben
enorm und beschert Dir und Deiner Umgebung mehr Lebensfreude und Magie im Alltag. Die Menschen um Dich herum sonnen
sich gerne in Deinem Licht.
Blanche Elliz - 20.08.2020 -
(Der vollständige Text ist im aktuellen Buch von Blanche Elliz
"Singing Out Loud - Warum Singen glücklich macht" erschienen.)
Wer nicht unbedingt musste, war nicht unterwegs an diesem feuchten 9. November. Ganz Deutschland schrieb das Jahr 1979,
ohne zu ahnen, dass man es ein Jahrzehnt später "das Jahr 10 v.M." nennen würde.
Auf der Transit-Autobahn zwischen Berlin und München zuckelte ein recht eigentümliches Hängergespann mit
Tempo 80 gegen Mittag bei Michendorf gen Süden. Der breite kantige Pkw sowjetischer Bauart namens "WOLGA",
den man gemeinhin nur als volkseigenes Taxi aus dem Ost-Berliner Stadtbild kannte, war ein PS-starker und
extrem geräumiger Wagen.
Am Steuer, im Stil des routinierten Profis, lässig den linken Arm aufgelegt, ein Mann um die Dreißig.
Ihm war trotz seiner sympathischen Erscheinung eher nicht anzusehen, dass hier ein selbständiger
Kultur-Unternehmer mit staatlichem Berufsausweis unterwegs war...
Thommy "TUTE" war einer der besten und beliebtesten "Schallplattenunterhalter" des Landes. Einer von
10 zugelassenen Profis dieser Spezies, die man heute nur noch "DJ" nennt. Im überdimensionalen
Kastenanhänger, unter Musikern auch spöttisch als "Schweinehänger" verschrien, hatte TUTE sein
tonnenschweres Equipment dabei. Hochwertige "Westtechnik", die zur Beschallung größerer Säle und
auch für Freilichtveranstaltungen taugte.
Neben ihm saß ich, sein Techniker und Assistent als Tourneepartner auf Zeit. Ich war 26 Jahre alt und
genoss die Freiheit eines "Antragstellers im Wartestand" in vollen Zügen. TUTE und ich, die wir
gemeinsam seit Monaten landauf, landab im Auto, in Raststätten, in Hotels, auf und hinter den Bühnen
großer und kleiner Kulturhäuser, auf Festwiesen, bei Großveranstaltungen und Betriebsfeten, in Jugend-
und Studentenklubs, in Gaststätten und Kneipen, auf unzähligen Festen und Partys und in fremden Betten
- rein berufsbedingt - erheblich mehr Zeit verbracht hatten, als zu Hause mit unseren
eigenen Frauen, verstanden uns in der Regel bestens.
So auch an diesem Freitag bei der schier endlos scheinenden Anfahrt zum nächsten Auftrittsort -
irgendein Klubhaus im 400 Kilometer entfernten Erfurt.
Nach nur drei freien Tagen daheim herrschte ohnehin die zum Tourneestart übliche Katerstimmung.
Aber an diesem Tag war jeder Anflug von Reiselust vom Start weg im Keim erstickt. Der Grund war nicht
nur das Novemberwetter. Mehr noch schlug die ernüchternde Aussicht auf vier Stunden
Kriechspur-Monotonie auf's Gemüt.
Und, als sei dies nicht schon bitter genug, kam auf der A9 strafverschärfend noch die unablässig
überholende Karawane der Westautos im Transitverkehr hinzu. Unverhohlen stand nämlich allen, die
hier mit ihren geprägten "B"- und "M"-Nummernschildern auf der ostdeutschen Betontrasse unterwegs
waren, die Zufriedenheit darüber ins Gesicht geschrieben, dieses nicht nur im November vielen so
grau und trostlos erscheinende kleine Land schon nach ein paar hundert Kilometern wieder verlassen
zu dürfen.
Ja, es gehörte eine Menge Selbstbeherrschung und innere Stärke dazu, die in schöner Regelmäßigkeit
von links auf uns treffenden mitleidigen Blicke zu ertragen, die von gelangweilten Beifahrern, ja
selbst noch aus den klapprigsten Kisten, herüberkamen.
Aber nein, keiner von uns beiden war naiv genug, um pauschal mit denen tauschen zu wollen, die mit Tempo
100 an uns vorbeischlichen und dabei demonstrativ ihre eigenen Alltagsorgen wegzulächeln schienen.
Wenn da nur nicht dieser sinnfreie Schlagbaum am Ende der Bahn gewesen wäre...
Aber zumindest in einem Punkt waren die Fahrer auf allen Spuren dieser deutsch-deutschen Transitpiste
in einer Art "Zwangsgemeinschaft auf Zeit" vereint: Alle waren gleichermaßen von der Sorge beseelt,
möglichst nicht in eine von Erich's Radarfallen zu tappen, die hier gefühlt hinter jedem zweiten Busch und
hinter allen Brücken auf Beute lauerten. Ja, es gab damals vielerlei Gründe, diese Strecke quer durch
Mitteldeutschland zu hassen.
Drei Jahre später, im Oktober 1982, fuhr ein neu gegründetes Ensemble aus Schauspielern, Sängern, Puppenspielern, Tänzern und Sprechern in zwei Pkw's auf derselben Transit-Autobahn Richtung Süden zum allerersten öffentlichen Auftritt, zur Generalprobe mit Publikum. Mit dabei die "Molly-Sisters", auf dem Weg von Ost-Berlin nach Erfurt.
Weit voraus befuhr am selben Tag ein höchst seltsames Gefährt dieselbe Strecke - mit Tempo 80 auf der rechten Spur. Bereits von weitem fiel jedem Insassen der PKW-Karawane, die sich wie immer bei Tempolimit 100 auf der linken Spur langsam heran schob, der Kasten-LKW ins Auge, der nach Art des Bodypaintings recht plastisch zu einer riesigen Kuh umgestylt war.
Der schwarzweiß gefleckte Kofferaufbau ließ am Heck ein kantiges Hinterteil mit einem kräftigen Schwanz
erkennen. Unter dessen puschliger Spitze schwang sogar ein prall gefülltes Euter gemütlich hin und her.
Der liebevoll mit Kies befüllte Gummihandschuh hielt zwar immer nur wenige Tage stand, wirkte aber zur
einhelligen Freude aller Stadt- und Landbewohner extrem authentisch.
Auch die Front war mit rosafarbigen Lippen und den Scheinwerfern als Nüstern einem schönen Rindvieh
durchaus ähnlich, zumal sich von den Stirn-Ecken der Fahrerkabine zwei imposante schwarze Hörner zur
Mitte krümmten. Diese beiden aus Modelliermasse und Epoxidharz wohlgeformten Aufsätze waren wetterfest
und stammten vom “Deutschen Theater” aus der Werkstatt des für seine Kostüm- und Tierplastiken berühmten
Eduard Fischer, der sie als kleine Starthilfe für uns höchst persönlich und kostenlos gefertigt hatte.
Erst diese feinen Details gaben unserer Riesen-Kuh ihre ganz besondere Note.
Und der Plan ging auf: Die sich fast ausnahmslos umschauenden Beifahrer der vorbeiziehenden Pkw-Kolonne
ließen trotz der endlos scheinenden Fahrt gen Süden im Fahrerhaus der "KUH" nie Langeweile aufkommen.
Bei ca. 95 Prozent ging der Daumen anerkennend, staunend oder auch dankbar nach oben. Lachend und winkend
nicht nur die Kinder.
Die drei jungen Kraftfahrer an Bord genossen das Besondere ihrer Mission. Als Licht-, Ton- und
Bühnentechniker lag noch ein langer und harter Arbeitstag vor ihnen. Hinter sich im Ladekoffer
das umfangreiche Equipment des Ensembles, bei dem sie fest angestellt waren, und dessen Name
später auch links und rechts auf den Türen zu lesen war.
Bald kam sogar eine versteckt montierte Fanfaren-Hupe hinzu, deren Benutzung natürlich verboten war.
Das langgezogene, herrlich laute und verblüffend echt schmachtende "Muuuhhhhhhh" durften die Jungs
daher nur außerhalb der Städte und nur bei besonderer Gelegenheit erklingen lassen.
Wenn zum Beispiel bei einer Ortsdurchfahrt die Kindergartengruppe an der Bushaltestelle schon beim
Anblick der vorbeifahrenden "KUH" ausgelassen rufend und fröhlich winkend reagierte, dann war das
der perfekte Zeitpunkt, um unerwartet laut und stilecht zurückzugrüßen.
Die so einfach per Knopfdruck ausgelöste Begeisterung und positive Energie der Kids verspüre ich
noch heute, wenn ich an solche Glücksmomente denke, die ich als gelegentlicher Aushilfsfahrer im
Cockpit der "KUH" selbst miterleben durfte. Augenblicke, die zweifellos zu meinen schönsten Erinnerungen zählen.
Das große Glück, mit der "KUH auf Tournee" zu gehen, verdankten die mitfahrenden
Techniker übrigens den beiden Eigentümern des so auffällig, wie eigenwillig gestylten Fahrzeugs.
Jenen Männern, die drei Jahre zuvor an einem trüben Novembertag auf dieser Strecke zum selben
Zielort unterwegs waren und während der Fahrt die ersten "verrückten" Ideen für ein Kleinkunst-Unternehmen
in der Art einer modernen Wanderbühne entwickelt hatten.
Fortan war die "KUH" das mobile Markenzeichen der "GAUKLER-BÜHNE", die bis zum Herbst '89 in über
850 Veranstaltungen die Kulturlandschaft zwischen Saßnitz und Suhl bereicherte und nicht nur abertausenden
Kindern viele unvergessliche Glücksmomente bescherte.
So ganz nebenbei und ohne Mehrkosten gelang es in all den Jahren außerdem noch zahllose Transitreisende -
sogar bei Novemberwetter - ein klein wenig aufzuheitern...
Wolfgang Papenbrock - 17.04.2020 -
(Der vorstehende Text ist ein Vorabdruck aus dem gleichnamigen Sachbuch
"Glücksjagd im Kulturparadies",
das voraussichtlich im Jahr 2021 erscheinen wird.
Mehr Informationen mit einer Auswahl aus zahlreichen Fotos und Rezensionen
finden sich unter:
www.Gaukler-Bühne.de)
Mut - Freiheit - Glück
Ich bin frei. Endlich frei, um glücklich zu leben.
Raus aus meinem „sicheren“ Angestelltenverhältnis. Nicht mehr eingequetscht in Strukturen,
Vorgaben und Prioritäten, deren Wechsel so schnell verkündet wurden, dass mir das Hören
verging. Getrieben von Absatzzahlen und dem Ausrichten auf immer mehr Profit, Karriere und
mögliche tolle Erfolgsgeschichten.
Mein gefühltes Glück in dieser Zeit lag auf einer Skala von 1 - 10 (wenn 1 sehr unglücklich
ist und 10 das höchste Glücksgefühl darstellt) bei 2, manchmal auch bei 3.
Und dann, ganz plötzlich, verging mir das Hören und der Hörsturz war da. Und somit auch die
Entscheidung, meinen Vertriebsjob zu kündigen und meinem Herzen zu folgen...
"Goodbye!" Firmenwagen, gutes Gehalt und Sicherheit.
Ein Zitat, welches ich in dieser Woche gelesen habe, gibt das gut wieder, was ab April 2018 in
meinem Leben geschah:
„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.“
(Perikles - 431/30 v. Chr.)
Ich nahm all meinen Mut zusammen und beschloss, ab sofort freischaffende Künstlerin zu werden.
Auf meine innere Stimme zu hören, meinem Herzen, mir selbst zu vertrauen und meiner Berufung zu folgen.
Alle Zweifel, die mir von Außen angetragen wurden, zu vergessen und mich in mein ganz
persönliches Abenteuer zu begeben: mein selbstbestimmtes Leben.
Heute, fast genau zwei Jahre später, schaue ich mit Stolz und Freude auf das, was dann alles
geschah. Mut - Freiheit - Glück.
Ich bin so glücklich. Glücklich, wenn ich morgens die Augen aufmache und aus dem Bett springe,
meinen Tag wieder frei gestalte und das tue, was ich liebe. Kunst!
Kunst macht mich glücklich!
Was macht dich glücklich? Was könntest du immer tun, ohne das es dich anstrengt?
Was gibt dir Energie und lässt dich strahlen?
Die Kunst, glücklich zu leben ist einfach. Folge deinem Herzen und mache das, was dich
begeistert. Sei mutig und gehe deinen Weg. Das gibt dir soviel Freiheit, Glück, Lachen und Abenteuer.
Heute ist meine Glücksskala jeden Tag bei einer 9 - 10. Ich liebe mein Leben. Die häufigste Frage,
die mir als freischaffender Künstlerin gestellt wird, ist: „Können Sie denn von ihrer Kunst leben?“,
und meine Antwort lautet immer: „Ich kann nicht mehr ohne meine Kunst leben.“
Nun meine Frage an dich: Womit kannst du nie wieder in deinem Leben leben?
Anja Streese
- 15.04.2020 -
Eine der großartigsten Fähigkeiten des Menschen ist die Imagination, die Kraft der Vorstellung und
der Fantasie und allein sie macht es möglich, in sich selbst ganze Welten zu erschaffen und zu entdecken.
Diese Fähigkeit ist bei jedem von uns in unterschiedlichster Weise ausgeprägt und ich habe schon
Menschen gehört, die behaupteten, dass sie nicht träumen würden und auch keine Fantasie hätten.
Wer kennt aber nicht das Experiment mit dem rosa Elefanten, den man sich nicht vorstellen soll und der
dann doch plötzlich und ohne großes zu tun, vor dem geistigen Auge erscheint?
In diesen Tagen haben wir viel Zeit. Ein Glück ist, wenn man sich nicht nur von geschürten Ängsten
anstecken und treiben lässt, sondern auch noch Raum zum Nachdenken, Nachsinnen, Genießen, Atmen,
Fühlen und Fantasieren bleibt...
Ein lustiges Spiel aus Kinder- und Jugendtagen, das wir begannen, wenn die Langeweile allzu groß
gewesen ist, war das Spinnen von freien Assoziationsketten. Es war ganz einfach: einer von uns
fantasierte und sprach ein Wort und dann waren wir nacheinander dran und sagten spontan jene Dinge,
die uns gerade und unmittelbar in den Sinn kamen. Später verfeinerten wir dieses Spiel und erfanden
auf diese Weise ganze Geschichten, die wir uns improvisiert erzählten.
Mit der daraus entwickelten Fähigkeit erfreute ich später meine Kinder und erfand für sie so manche
fantastische Geschichte und zeigte ihnen hoffentlich auf diese Weise ein Stück einer Welt, die sie
sich auch - zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort - selbst erschaffen können.
Vielleicht eine müßige Beschäftigung. In diesen Tagen aber, wo sowieso alles so unwirklich
erscheint, könnte es uns nicht nur eine nette Ablenkung sein, sondern uns selbst zeigen,
wie produktiv und reich wir eigentlich sein können.
John Lennon richtete eines seiner bekanntesten Lieder an unsere Vorstellungskraft.
Ein Junge rettete mit seiner Fantasie in einer der bekanntesten Geschichten von Michael Ende eine
ganze fantastische Welt. In Rilkes Geschichten über den lieben Gott erzählen uns die Wolken, wie
Kinder sich vorstellen können, dass der liebe Gott in jedem Ding sein kann, sogar in einem Fingerhut.
Natürlich, es gibt viele Kindsköpfe und Fantasten, die sich alles Mögliche vorstellen können,
und wir lachen über sie, wenn sie uns ihre Märchen erzählen. Wir erinnern uns vielleicht alle
an den berühmten Lügenbaron, der ja bekanntlich ein rechter Schelm auf dem Gebiet der Fantasie
gewesen ist. Manch einer verliert sich auch in seinen Träumereien und verwechselt sie mit
der Wirklichkeit.
Aber mal ganz ehrlich, was wären wir denn ohne Träume und ohne Fantasie?
Wären wir dann nicht auch ohne Hoffnung?
Die Vorstellung von einer anderen Welt, einer anderen Zeit oder eines anderen Seins,
kann Glück und Hoffnung schenken.
Wenn Kinder davon träumen, große Fußballer oder Sänger zu werden, gibt ihnen dies
unglaublich viel Mut, Motivation und Kraft. Solche Flausen werden ihnen alsbald
ausgetrieben, und die großartige positive Energie mit dem dabei empfundenen Glück
geht verloren. Dies wird zuerst durch Wut und später durch Mutlosigkeit ersetzt.
Kann man nicht aus diesem Kreislauf ausbrechen und sich seiner früheren Träume erinnern?
Ich habe das Spiel aus Kindertagen wiederentdeckt, und ein neues Spiel ist entstanden.
Die vielen kleinen Momente des Glücks sammeln, sie in Beziehung setzen und zu schauen,
welche neuen Bilder und Geschichten sich daraus ergeben.
Die Faszination des Kaleidoskops. Vielleicht sogar ein Glasperlenspiel.
Christian Mantey
- 14.04.2020 -
Neulich habe ich Konfuzius gegessen, nur ein Stück, und er schmeckte köstlich. Ich kannte Konfuzius,
wie er stämmig auf der Weide in Vorpommern graste, mit seiner wuscheligen Galloway-Mähne dem Winterwind
trotzte, bisweilen unbeteiligt aufschaute und weiter graste, bis ihm ein Bolzenschussgerät zwei
kronkorkengroße Löcher in den Schädel donnerte.
Er habe den Tod nicht kommen sehen, sagt seine ehemalige Besitzerin leise. Schlachtfest war vor
vier Monaten, aber sie klingt immer noch ein wenig traurig. Konfuzius gehörte zur Familie,
zugleich war klar, dass er aufgezogen würde zum Verspeistwerden.
Wie kann man heute essen, was man gestern mochte? Ganz einfach: Mit Achtung, Dank und im Bewusstsein
des Widerspruchs, dass der Mensch ganz oben steht in der Nahrungskette, was meist zu jenem finalen
Moment führt, dass der Schwächere sein Leben lässt, um den Stärkeren zu nähren. Veganer entscheiden
anders, worüber es nichts zu lachen gibt...
Es ist, auch für Kinder, eine spannende Übung, Fleisch von Tieren zu essen, die man kannte, tötete,
zerlegte und portionsweise vakuumierte. Anders als die seelenlose Packung im Kühlregal trägt der
Konfuzius-Braten ein Gesicht, eine Persönlichkeit, gemeinsame Vergangenheit. Automatisch schneidet
das Messer besonnener, jeder Bissen gerät zum inneren Monolog über Verantwortung und Macht und die
Brutalität des Menschseins. Wenn Fleisch, dann respektvoll.
Zum Respekt gehört auch, das Tier so weit wie möglich zu nutzen, nicht nur das Filet, sondern Hirn
und Hufe, die Innereien, das Fett, die Sehnen. Immer mehr Restaurants bieten heute nach dem
„Nose to Tail“-Konzept das ganze Tier vom Scheitel bis zum Huf an, solange, bis es restlos verputzt
ist, und schlachten erst dann das nächste. So sollte jede Schulküche verfahren, denn einfacher
lassen sich Wertekonflikte kaum vermitteln, die wir sonst gern verdrängen.
In unserem Eisfach liegt übrigens noch ein feines Stück von Konfuzius. Ja, wir werden es essen.
Aber langsam, bewusst und dankbar.
Hajo Schumacher - 09.04.2020 -
(Der Text ist erstmals in der Kolumne
"Schumachers Woche"
in der Berliner Morgenpost vom 24.03.2019 erschienen.)
Hallo,
ich wünsche dir einen wunderbaren Wochenanfang. Vielleicht geht es dir ähnlich wie mir: Draußen ist ein
wunderschöner Frühlingsanfang. Jeden Morgen singen in der aufgehenden Sonne lautstark die Amseln ihr
Balzlied und in wenigen Wochen werden sicherlich unterhalb meiner Terrasse kleine Amselbabys geschlüpft
sein. In meinem Garten stehen die Tulpen in ihrer schönsten Blüte. Alles scheint wie immer und trotzdem
liegt ein dunkler Moment über allem.
Ich kann das so schlecht beschreiben und irgendwie erinnert mich die Situation an die 80er Jahre, als
Tschernobyl seine unheilvollen Schatten vorauswarf. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie es „danach“
weitergehen soll. Einerseits empfinde ich diese Situation als einmalige Chance, viele gesellschaftliche
Dinge besser zu machen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass es „danach“ irgendwie noch schlimmer werden
könnte, als es jetzt schon ist. Dass wir weiterhin unsere Natur zerstören, dass wir uns noch mehr in Arbeit
und Konsum verstricken und vergessen, dass wir ein Teil der Natur sind und die kleinen Dinge des Alltags
uns glücklich machen...
Am Wochenende wurde ich von einem Kollegen gefragt, was in diesen Zeiten meine Glücksgeschichte sei. Ich
wusste erst einmal keine Antwort darauf. Die Frage nach dem Glück ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt.
Was ist Glück und was macht uns glücklich? Heutzutage wird Glück oft mit Konsum gleichgesetzt: Viele
Marketingstrategien sind so konzipiert, dass dem Käufer versprochen wird, mit der neuen Kamera, mit dem
neuen Objektiv glücklich zu werden. Doch jeder weiß, dass das Glück nur von kurzer Dauer ist.
Vielfach verschwinden die Gegenstände nach kurzer Zeit in Schubladen und Schränken und werden schnell
vergessen.
Ich schreibe hier aus eigener Erfahrung. Wie oft bin ich beim Aufräumen auf Dinge gestoßen, von denen ich
nicht mehr wusste, dass ich sie überhaupt besitze. Die andere Frage ist: Können uns andere Menschen glücklich
machen? Brauchen wir andere Menschen zum Glücklichsein? Partner, Eltern, Kinder, Freunde? Ich würde die
Frage mit janein beantworten. Es gibt viele Momente, wo uns andere Menschen glücklich machen können.
Mit einer Umarmung, beim Zuhören, bei gemeinsamen Erlebnissen. Wenn ich zurückschaue, sehe ich viele
Situationen vor mir, in denen ich mit meiner Familie und Freunden viele glückliche Momente hatte.
Aber was ich ganz genau weiß, ist, dass mich das Fotografieren, vor allem in der Natur, glücklich macht.
Woran mache ich das fest? Es ist zum einen die Bewegung an der frischen Luft. Das Einatmen von Gerüchen.
Ich liebe den Geruch von Wäldern, von dem Meer. Das würzige Harz, der Geruch von feuchten Waldböden oder
einer warmen salzigen Seebriese. Ich liebe die Geräusche: Der Wind der durch die Bäume weht.
Das Vogelgezwitscher, das Rufen der Eule oder das Röhren vom Hirsch in der Dämmerung, das Rauschen der Wellen.
Auch wenn die Bienen summen und die Glühwürmchen in der Dunkelheit leuchten. All diese Dinge machen mich
glücklich und dies mit der Kamera festzuhalten insbesondere.
Ich kann mit meiner Kamera meinen Gefühlen Ausdruck verleihen, ob freudige oder melancholische Momente
und wenn ich bei der Fotografie und der Bildbearbeitung in einen Flow komme, fühle ich mich sehr erfüllt.
Das Wechselspiel zwischen der Fotografie in der Natur und der Bearbeitung zu Hause am PC möchte ich nicht
missen – beides gehört für mich zusammen. Vor allem, wenn ich meine positiven Gefühle aus der Natur mit
der Bildbearbeitung in Form von Farbe und Lichtstimmung darstellen kann. Zudem liebe ich es, in der Natur
mit der Kamera kreativ zu spielen. Und es macht mich besonders glücklich, wenn ich auf meinen Fotos
später am Bildschirm kleine Dinge sehe, die mir vor Ort verborgen geblieben sind.
Ja, Fotografie macht mich sehr glücklich, weil ich mich dann eins mit der Natur fühle.
Meine innere Mitte finde, meine Sorgen vergessen kann und genau im Jetzt bin. Es ist egal, was gestern war
und morgen kommt.
Jetzt ist der Moment, ein Foto zu machen, das mich erfüllt. Sie mit allen Sinnen genießen und
abschalten. Die Natur ist so wunderschön, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. In diesen Momenten
brauche ich keinen Menschen um mich herum. Auch das Alleinsein macht mich glücklich. Ich muss mich
niemandem beweisen, muss mich nicht verstellen, ich darf so sein, wie ich bin. Die Natur nimmt mich so,
wie ich bin.
Einen der glücklichsten Momente hatte ich, als ich im letzten Spätsommer ganz früh alleine, nur begleitet von
meiner Hündin, in der Sächsischen Schweiz den Gamrig bestieg, von dem ich damals gar nicht wusste,
welche kulturgeschichtliche Bedeutung er verbirgt. Im Tal stieg der Nebel auf und die Landschaft war
in einen ganz besonderen Glanz gehüllt. Ein unglaubliches Erlebnis, das mich noch heute
beim Anblick der Bilder eine Gänsehaut verspüren läßt. Die ausführliche Geschichte habe ich für dich
in meinem neuen Buch „Gefühl und Verstand - Naturfotografie“ niedergeschrieben.
Eine wunderschöne Woche und bleib gesund!
Deine Jana
Jana Mänz - 07.04.2020 -
In Corona-Zeiten, habe ich festgestellt, passiert an vielen Tagen nichts, und dann plötzlich alles auf einmal.
Für mich war der letzte Sonnabend so ein Tag. Meine Tochter kam aus Kassel wieder, wo sie auf der Kinderonkologie
gearbeitet hatte. Sie ist Medizin-Studentin. Ich versprach, sie vom Bahnhof abzuholen und freute mich auf einen
Abend mit meinen Kindern.
Aber dann, am Freitag, rief mein Mann an. Er war immer noch in Israel, sollte am Montag über Moskau nach
Berlin zurückfliegen, aber der Flug war gestrichen worden. Es gab nur noch eine Möglichkeit, um nicht
monatelang alleine in Tel Aviv festzusitzen: unsere Sachen zurücklassen, morgens um sechs nach Amsterdam
fliegen und von dort mit dem Auto nach Berlin fahren. Ein abrupter Abschied nach zwei Jahren. Und dann noch mit
Kater.
Ein wenig widerwillig packte er den Koffer. „Brauchst du noch was?“, fragte er am Telefon. „Die Geburtsurkunden,
den Schmuck und zwei Kleider“, sagte ich. „Und Socken“, wollte ich noch hinzufügen, weil ich nur zwei Paar mit
nach Berlin gebracht hatte. Aber dann musste ich an Thea Gottschalk denken, die, als ihr Haus in Kalifornien
abbrannte, das Katzenklo ins Auto packte, aber nicht die Rilke-Handschrift ihres Mannes. Kurz danach hatte
er sie verlassen, nach fast 50-jähriger Ehe...
„Mehr nicht“, sagte ich zu meinem Mann, erinnerte ihn aber sicherheitshalber an die Tierarztunterlagen.
„Ich hoffe, Jimmy lässt sich einfangen, nachts um drei“, sagte er. „Ich lasse mein Handy an“, sagte ich.
Als würde ihm das helfen!
Nachricht von Yael
Vor dem Schlafengehen bekam ich eine Nachricht von Yael, mit der ich mir zwei Jahre lang Briefe zwischen
Tel Aviv und Berlin geschrieben hatte. Ich wohnte jetzt wieder gegenüber von ihr und konnte ihr ins
Fenster sehen, aber unser Wiedersehen hatten wir uns auch ein bisschen anders vorgestellt. Sie schrieb:
Morgen Abend werde sie ein Balkon-Konzert veranstalten, ich solle den Nachbarn Bescheid sagen. „Wunderbar“,
schrieb ich zurück und kündigte an, dass meine ganze Familie zusehen werde. Wenn alles gut gehe.
Es wurde alles gut. Das wusste ich, als ich am nächsten Morgen die Katzenfotos sah, die mir mein Mann von
der Reise geschickt hatte. Dazu Kommentare wie: „Jimmy ist in Amsterdam angekommen. Er sieht gerade zum
ersten Mal Holland. Ziemlich flach alles.“ Oder: „Jimbo ist jetzt schon stoned, sonst hätte er den Flug
nicht durchgestanden. Sagt er.“
Ich stand auf, ging einkaufen, winkte Yael zu, die auf ihrem Balkon die Technik aufbaute, setzte mich in
die Sonne und genoss noch einmal die Ruhe vor dem Sturm. Ein paar Stunden später, pünktlich zu Konzertbeginn,
war es soweit. Wir standen auf unseren Balkonen – die ganze Familie – und hörten Yael und ihren Musikern zu.
Sie sang: „We are flying to the Moon“.
Und natürlich schien auch noch der Mond.
Anja Reich - 06.04.2020 -
(Der vollständige Text ist erstmals als Kolumne im Ressort
"MENSCH & METROPOLE"
in der Berliner Zeitung vom 01.04.2020 erschienen.)
Die Lage in Worte zu fassen, war auch für Sprachfremde einfach: Malheur! Catastrophe! Désastre! Das verstand
sich alles beinahe von selbst. Aber wie sagt man bitte schön auf Französisch: „Meine Papiere sind weg“?
Wir standen im Foyer unseres Hotels in Antibes an der Côte d’Azur, in der Mitte gelegen zwischen Cannes
und Nizza, als ich genau das feststellte. Mein Pass war unauffindbar. Nicht hier, nicht da. Weg.
Das war Donnerstagabend, der Rückflug sollte Samstagfrüh sein. Ich geriet augenblicklich in Panik. Wie sollte
ich ohne Papiere ins Flugzeug kommen, wie durch die Sicherheitschecks, wie je wieder zurück nach Berlin?
Würde man mich ohne ein Ausweisdokument mitfliegen lassen? Würde ich einen Fernbus nehmen müssen oder den Zug,
mich beim Grenzübertritt im Bordklo verstecken, und woher sollte ich überhaupt wissen, wann was wo abfährt?
Wie sollte ich mich verständlich machen auf Französisch, was ich höchstens bruchstückhaft spreche? Was für
ein ironischer Abschluss für eine Sprachreise, um die rudimentären Kenntnisse aufzufrischen...
Eine englischsprachige Reiseleiterin eilte im Hotelfoyer herbei, um zu helfen. Ob ich den Pass vielleicht
irgendwo verloren hätte? Woran ich mich erinnern könnte? Wo also war ich gewesen? Angekommen waren wir in
Montpellier, mehr als 300 Kilometer westlich von Antibes. Die freundliche Reiseleiterin klappte ihren Laptop
auf und suchte auf der Website des Aéroport Montpellier nach verlorenen Gegenständen.
Ich lernte: „objets oubliés“.
Kleine Klassen und viele Freizeitangebote
Montpellier ist eine südfranzösische Stadt voller Studenten, fast jeder dritte der 280 000 Einwohner ist
an einer Hochschule eingeschrieben. Das kleine historische Zentrum ist charmant und voller Prachtbauten,
einiges noch aus dem Mittelalter erhalten, anderes den Pariser Boulevardbauten des 19. Jahrhunderts nachempfunden.
Meine Reisegruppe hatte die Sprachschule „Accent Français“ besucht. In einem historischen Haus mit
knarzenden Dielen füllten uralte Kamine die Ecken der Klassenräume, und an den Wänden wellten sich
große Frankreich-Karten. Es studierten 204 Schüler aus 34 Ländern. Kleine Klassen und viele Freizeitangebote,
sogar Kochkurse. Das fand ich gut. Fremde Sprachen auf bescheidenem Niveau zu sprechen ist wie Resteessen:
aus dem was noch da ist etwas Brauchbares mixen. Wir hörten zu, wie Chinesen, Südafrikaner, Schweizer
und Japaner im A2-Kurs über ihr Traumhaus sprachen. Und wie Lehrerin Jeanne die vielen verschiedenen,
für uns völlig unverständlichen Akzente alle entschlüsseln konnte, weil sie einen Master hat in
„Französisch als Fremdsprache“.
Dass Haus „maison“ heißt, und Traum „rêve“, habe ich mir gemerkt. Was Albtraum heißt, kam nicht vor.
Ein Anruf am Flughafen: „Objets oubliés?“ Non.
Von Montpellier fuhren wir nach Avignon, die Stadt der Päpste. Im 14. Jahrhundert regierten von der mächtigen
Burg aus mehrere Kirchenoberhäupter, bis der Sitz etwa 100 Jahre später wieder zurück nach Rom verlegt wurde.
Ein kolossaler Sturm hatte die Touristen, kaum dass sie aus ihren Bussen gequollen waren, vor sich her gefegt,
bis sie sich hinter den meterdicken Altstadtmauern in Sicherheit bringen konnten. Le mistral, ein fieser
kalter Nordwind. Hatte er meinen Ausweis hinfort geweht?
Keiner sprach Englisch, ich wurde ganz wütend
In Antibes griff ich zum Computer, suchte die Telefonnummer der Deutschen Botschaft in Paris, rief an und
lernte: Rap. Ein Rap ist ein Reiseausweis als Passersatz. Mit dem würde ich ausreisen können, und den bekäme
ich ganz schnell, ich bräuchte nur zwei Passfotos und eine Verlustanzeige von der Polizei, und man habe
Freitag bis 18 Uhr geöffnet, alles „pas de problème“. Aber ich war doch gar nicht in Paris!
Das nächste Konsulat befand sich in Marseille, immer noch 200 Kilometer von meinem aktuellen Aufenthaltsort
entfernt. Aber dann fand ich Nizza in der Liste mit den deutschen Honorarkonsulaten. Das war nur 30 Kilometer
weit weg – und hat fast immer zu, wie ich feststellte, als ich anrief. Das Ansageband teilte mir mit, dass
man am Freitag von 8.45 bis 11.45 Uhr geöffnet haben werde. Diese drei Stunden waren mein Zeitfenster am
nächsten Tag für: Verlustanzeige bei der Polizei stellen, Passfoto machen, mich im Konsulat anmelden und
irgendwie dorthin kommen.
Einen Photomaton, einen Fotoautomaten, gebe es im „Casino“, dem nahen Supermarkt, hieß es an der Rezeption.
Ich schlief schlecht. J’ai mal dormi.
Früh am nächsten Tag hetzte ich los. Gleich um die Ecke hatte man mir gesagt. Da war nichts. „Le Casino?“,
rief ich den wenigen Menschen auf der Straße zu. Diese zeigten mal hierhin, mal dorthin, keiner sprach
Englisch oder weigerte sich, es zu verstehen. Ich wurde ganz wütend: Können Franzosen nicht mal ordentlich
einen Weg zeigen?
Am Ende fand ich das Geschäft, aber der Automat wurde gerade gewartet. Aarrrgh. Zurück ins Hotel, zum nächsten
Casino. Eine elegante Französin von der Touristeninformation fuhr mich. Der Fotoautomat dort war frei. Ich
setzte mich rein, der Automat sprach mich an, natürlich auf Französisch. Je ne comprends pas un mot! Die
Dame aus dem Auto übernahm die Kommunikation, drückte hier, drückte da, schmiss Geld ein, wosch! machte
es, und dann warteten wir.
Ich lernte: Qu’est-ce que je ferais sans vous! Was würde ich ohne Sie machen!
Weiter ging es zur Polizei. Wir parkten direkt vor der Wache im absoluten Halteverbot. „Un moment“, sagte
die Frau. Und schon kam ein junger Polizist heraus, Madame, Sie können hier nicht parken. Aber da hatte er
sich geschnitten. Maschinengewehrsalvenartig redete meine Helferin ihn nieder, important, hörte ich, wichtig,
office de tourisme, zweimal machte der junge Mann den Mund auf und gleich wieder zu, dann hatte er begriffen:
Wenn er mir jetzt nicht tout de suite, sofort, eine Verlustanzeige für meine Papiere ausstellt, war es vorbei
mit dem Tourismus an der Côte d’Azur.
Ich bekam ein dünnes Blatt Papier mit schief kopierten Linien drauf. Das Formular für Verlustanzeigen. Ich
lernte: Déclaration de perte. Wir trugen meinen Namen ein, dann knallte der Polizist mit einem großen Stempel
darauf herum. Die elegante Französin lächelte charmant, ich seufzte erleichtert. Und schon saß ich im Taxi.
Das deutsche Honorarkonsulat in Nizza versteckt sich im zweiten Stock eines schmuddeligen Hauses in der von
parkenden Transportern verstellten Rue de France, hinter billigen Türen und Pressspanambiente mit Neonlicht.
Wie hatte es im Internet geheißen: „ein Ort bilateraler Repräsentation“. Immerhin klebten die Bundesadler
auf den Namensschildern, die den Ort bilateraler Repräsentation von der Abstellkammer und den Toilettenräumen
unterscheiden.
Hätte ich nur Französisch gesprochen!
Die Angestellte des Honorarkonsulats öffnete mir die Tür. Um 11.30 Uhr, eine Viertelstunde vor Büroschluss.
Mir klebte die Frisur am Kopf. Die Konsulatsangestellte reichte mir Formulare, die ich gewissenhaft und
schwer atmend ausfüllte. Nicht ohne Stolz gab ich ihr meine brandneuen Passfotos. Zahlte 21 Euro, erhielt
meinen Rap, der mich zur einmaligen Einreise in die BRD berechtigt – und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich
werde nach Hause kommen, vive l’Allemagne!
Leicht wie eine Feder hüpfte ich zurück auf die Straße. Wie viel heller sieht doch gleich alles aus! Mein
Handy wies mir den Weg zum Bahnhof, zurück zu meiner Gruppe in Antibes.
Erst mal jedoch etwas essen. Croissant und Café au lait, très français. Dass ich in einem Café landete,
das bei genauer Betrachtung eher einem Dönerimbiss ähnelt, und der Kaffee nach Plörre schmeckte, ach egal!
Dass ich Blasen an den Füßen hatte, als ich endlich den Bahnhof erreichte, na und! Dass dort Streik war und
wütende Menschen in Megafone blökten, während andere mit Transparenten wedelten – Moment mal.
Hätte ich nur Französisch gesprochen! Sofort eine Reportage über die Bahnstreiks verfassen und den attraktiven
Mann interviewen können, der das Megafon hielt, und etwas für die deutsch-französischen Beziehungen tun, quasi
bilateral repräsentieren können. Aber so stand ich nur dumm herum, nicht mal einen Zettel mit Streikparolen
fand ich. Meine verschiedenen Ansätze, die Herumstehenden um Informationen zu bitten, führten jedes Mal nur
dazu, dass sie mir zeigen wollten, wo der Fahrkartenautomat stand.
Zurück in Berlin bekam ich Post vom Bezirksamt
Dieser entpuppte sich als ein sehr problematisches Gerät für Nicht-Franzosen. Vermutlich noch viel
komplizierter als die Geräte, mit denen die Deutsche Bahn die Reisenden um den Verstand bringt – und
dann alles noch in dieser unverständlichen Sprache. Ich lief zu zwei Herren mit Uniform. Aidez-moi!
Helfen Sie mir! Würden sie vielleicht, aber sie hörten gar nicht zu, als ich losradebrechte. „Voilà“,
sagten sie und zeigten auf den Automaten. „Messieurs!“, rief ich und: „Antibes!“ Wieder sagten
sie „voilà!“ und zeigten auf einen Bahnsteig, wo gerade ein Zug einrollte. Ein TGV. Ich sprang hinein.
Die Türen schlossen sich. Nächster Halt Antibes.
Meinen Rap hielt ich fest in der Hand und hoffte eine Viertelstunde lang, dass keine Fahrkartenkontrolleure
kommen würden. Meinen Rap ließ ich überhaupt nicht mehr los, bis ich am kommenden Tag wieder in Deutschland
gelandet war.
Ich habe ihn bis heute aufbewahrt. Zur Erinnerung, als Souvenir – und um nicht zu vergessen, dass ich
beizeiten einen Französischsprachkurs machen sollte. Wenn ich das nächste Mal in Frankreich strande,
möchte ich vorbereitet sein.
Nach ein paar Tagen in Berlin bekam ich Post vom Bezirksamt. Vom Fundbüro! Ich möge bitte vorstellig
werden und meinen Ausweis abholen. Quelle surprise! Wie das geschehen war, konnte mir keiner sagen.
Fundsachenakten würden sofort gelöscht, wenn die Fundsache ihren Besitzer wiedergefunden habe.
Vielleicht hatte eine elegante Französin ihn gefunden oder ein verwirrter Polizist oder ein wütender
Bahnmitarbeiter und ihn in den Briefkasten geworfen. Wer auch immer, dachte ich: Merci beaucoup!
Ariane Bemmer - 30.03.2020 -
(Der vollständige Artikel ist mit dem Titel
"Sprachreise nach Frankreich"
erstmals im Tagesspiegel vom 21.02.2019 erschienen.)
Unser emotionales Gedächtnis verknüpft besondere Ereignisse in unserer Vita gern mit Namen
von Personen und dazugehörigen Orten. Wir speichern sie zusammen in einer Art Perlenkette
ab, die man Lebenserfahrung nennt.
Till Winston (GB), Naoko Asano (J), Janet Harkins (NZ) und
Debby Urbanovicz (CDN) sind zum Beispiel Namen von
Menschen, denen ich im Leben nie persönlich begegnet bin. Und doch ist meine Erinnerung
an sie seit meiner Schulzeit eng verknüpft mit vielen positiven Emotionen und ... mit
einer Wandzeitung.
Es ergab sich aus einem typisch-provokanten Pennäler-Spaß, der - wie sich bald herausstellen
sollte - ebenso erfolgreich wie folgenschwer war...
Zum Aufsatzthema "Briefe an Freunde" in der 11b1 der "Friedrich-List-Schule" in
Niederschönhausen kam mein Banknachbar mit mir auf die "anstößige" Idee, nicht - wie erwartet -
die vielbesungene "deutsch-sowjetische Freundschaft" ins literarische Licht zu rücken.
Nein, Karlchen und ich beschlossen stattdessen, einen Versuchsballon in Richtung
westliche Welt zu starten.
Ein Globus, der auch in Ostberlin zum gängigen Schulbedarf gehörte, war schnell zur Hand
und eine Auswahl möglichst interessant klingender Städte im Nu erstellt. Um den Überblick
zu wahren, hatten wir uns insgesamt 10 markante Orte ausgeguckt, wobei jeder von uns
fünf Favoriten seiner "Traumziele" benannte.
Nicht alle sind mir in Erinnerung geblieben, doch die meisten sind sogar heut' noch nachweisbar
(siehe Foto):
Cognac (Frankreich); Bristol (England); Sendai (Japan); Port Stanley (Falklandinseln);
Churchill (Manitoba/Hudson Bay/Canada); Christchurch (Neuseeland); Kalkutta (Indien); ...
hießen unsere Anlaufstellen.
Nach kurzer Recherche ging schon tags darauf der gemeinsam in Schul-Englisch verfasste Brief
zehnfach - jeweils mit ausreichender Frankierung versehen - per Luftpost auf die Reise.
Adressiert mit "To the General Post Office" begann unser Rundschreiben mit "Dear Sir",
was durchaus dem damaligen Zeitgeist entsprach. Im weiteren Text stellten wir uns kurz
als Schüler "from the GDR" vor, die an einer Brieffreundschaft interessiert seien und
baten um öffentlichen Aushang unserer Offerte in einem Schaukasten des Postamts...
Tagelang kreisten unsere Gedanken um kein anderes Thema mehr. Würde unsere "Flaschen-Luftpost"
überhaupt irgendwo ankommen? Sicherheitshalber hatten wir niemanden eingeweiht. Es galt, die
mögliche, ja sogar wahrscheinliche Blamage zu verheimlichen, falls gar keine Antwort käme.
Doch nach ca. zwei Wochen intensiver Spannung trafen endlich erste Karten und Briefe ein.
Die Resonanz war letztlich überwältigend: Als Erster schrieb Eric aus Cognac. Sein Vater war
der Postvorsteher und hatte ihm unseren Brief einfach mit nach Hause gebracht. Dann kam
eine Karte aus Bristol mit typischem Royal-Motiv "Queen und Prinz Andrew hoch zu Ross",
von der wir lernten, dass Till in England auch ein cooler Mädchenname ist.
Aus fast allen angeschriebenen Städten kam mehr als ein Freundschaftsangebot zurück.
Die Krönung der Aktion aber stellte sich in Neuseeland ein, von wo nach und nach
mehr als 30 Zuschriften aus allen Regionen dieses für uns damals unerreichbar scheinenden
Inselstaates im Südpazifik eintrafen. Bald erfuhren wir auch den Grund dafür: in Christchurch
hatte der "General Manager" keinen Aushang gemacht, sondern unseren Brief einfach
gleich im landesweit vertriebenen Magazin der NEW ZEALAND POST GROUP veröffentlicht.
An der Schule sprach sich unser Erfolg dann schnell herum. Und auch mein Aufsatz hatte
wohl deutlich mehr als nur eine (rote) Farbe. Als "diensthabender" Wandzeitungsredakteur,
der ich damals zufällig war, sah ich es zudem als selbstverständlich an, auch einen kurzen
aber bunt bebilderten Artikel zum Thema an das oft so trostlos wirkende schwarze Brett zu pinnen.
Warum denn vorab um Erlaubnis bitten? Nach der Devise: "Wer viel fragt, bekommt viel Antwort..."
verströmten schon bald einige exotische Ansichtskarten garniert mit ein paar flotten Zeilen ihren
unwiderstehlichen Reiz im Klassenzimmer.
Die meisten Mitschüler freuten sich mit uns und nannten es "geniale Idee"! Für andere
humorlose Gemüter war es wohl eher eine "illegale Verbindungsaufnahme
ins nichtsozialistische Ausland (NSA)", wenngleich es nicht verboten war.
Trotzdem war der Artikel samt Karten schon am nächsten Tag von der Wandzeitung verschwunden.
Auf die empörte Nachfrage beim Klassenlehrer verwies der uns ohne Kommentar direkt ... an den Direktor.
Nach einigen vergeblichen Anläufen, über das Sekretariat einen Termin beim Direks zu bekommen,
ließ er uns schließlich eine Art "Botschaft" ausrichten, die mir hernach im späteren Leben - so
oder ähnlich - noch mehrfach begegnen sollte:
"Die Überprüfung der Wandzeitungen an unserer Schule ist ein üblicher Vorgang in der Arbeit der
Schulleitung und erfolgt insbesondere zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit turnusmäßig..."
Nachtrag: Wir lenkten dann ein und fragten nicht mehr nach. Schließlich wollten wir ja wegen unserer
bunten Brieffreundschaften nicht noch von der Schule fliegen. Wir schrieben damals das Jahr 1970 und
machten im Jahr darauf doch noch unser Abi. Auch heute, 50 Jahre später, denken wir trotzallem sehr
gern an diese und andere Glücksgeschichten, die wir Kinder der "Demokratischsten aller
Deutschen Republiken" in unserer Jugend erleben durften. In einer Zeit, die weder grau noch trostlos war!
Wolfgang Papenbrock - 26.03.2020 -
Erst wenn das letzte Quarantäne-Selfie versendet, die letzte Home-Office-Story gedruckt
und der letzte Hamsterkauf-Cartoon verblasst, werden wir merken, dass auch an Glück zu erinnern sich lohnt!
Psychologen raten bereits heute: hört Musik, schaut Urlaubsvideos und lest oder schreibt:
Geschichten vom "GLÜCK"!
11. "Hier könnte noch eine Glücksgeschichte stehen" von ... - ....2020
10. "Singing Out Loud" von Blanche E. - 20.08.2020
9. "Auf Glücksjagd im Kulturparadies" von Wolfgang P. - 17.04.2020
8. "Die Kunst, glücklich zu leben!" von Anja St. - 15.04.2020
7. "Perlen des Glücks" von Christian M. - 14.04.2020
6. "Das Glück, ein Tier zu essen" von Hajo Sch. - 09.04.2020
5. "Warum Fotografie glücklich macht" von Jana M. - 07.04.2020
4. "Homeoffice: Von Balkon zu Balkon" von Anja R. - 06.04.2020
3. "Verlieren geht über Studieren" von Ariane B. - 30.03.2020
2. "My Penfriends" von Wolfgang P. - 26.03.2020
1. "Glückwunsch" Sprichwörter; Redensarten; Weisheiten - 24.03.2020
Hinweise der Redaktion:
Dieses Glücks-Projekt ist unbefristet.
Denn allem Anschein zum Trotz ist auch Glück immer da,
in guten wie in schlechten Zeiten!
Gesucht werden alle denkbaren Facetten des Glücks, die sich in Worte fassen lassen.
Das können ebenso wahre Geschichten wie Träumereien mit irgendeinem Bezug zum kleinen
oder großen Glück sein. Auch Sprichwörter, Redensarten oder überlieferte Weisheiten, die den Wunsch
von Glück enthalten oder den Weg zu ihm weisen.
Jede Geschichte vom Glück ist wertvoll. Egal, ob sie von einer wahren Begebenheit erzählt,
oder ob es eine fiktive Schmunzette ist, ob sie uns erheitert oder nachdenklich stimmt.
Der Fantasie sind (zum Glück) keine Grenzen gesetzt.
Jeder Einsender kann den Titel seiner Geschichte selbst bestimmen und auch ein passendes Foto vorschlagen.
Wer keines hat, dem helfen wir. Und, nur keine "Angst" vor den teilnehmenden Profis, denen unser ganz besonderer
Dank gilt! Allein dafür, dass sie unserer Bitte um eine "Wortspende" zum Thema Glück gefolgt sind, obwohl
sie als freie Autoren und Journalisten vom eigenen geschriebenen Wort leben und auch in dieser unser aller Leidenszeit
nichts zu verschenken haben.
Aber auch Hobby-Autoren und passionierte Briefeschreiber sind ganz herzlich eingeladen! Jeder kann für sich
entscheiden, ob sein Klarname oder ein selbstgewähltes Pseudonym unter seinem Text erscheint. Gern unterstützen
wir auch jeden vielleicht noch etwas unsicheren Einsender, wenn gewünscht, mit unserem ehrenamtlichen
Lektorat/Korrektorat. Das heißt, dass eine kostenlose Korrekturlesung vorab ganz selbstverständlich ist.
Die Teilnahme an unserer Glücks-Challenge ist ebenso freiwillig, wie unverbindlich. Wir vergeben keine Preise und
zahlen keine Honorare. Und doch können wir auf renommierte Forscher verweisen, wenn wir versprechen, dass
Dankbarkeit ein Stück weit glücklich macht! Das gilt sogar für beide Seiten: für den der gibt und den, der
empfängt. Also auch für den, der schreibt und den, der liest!
Wir freuen uns über jede Zuschrift und wünschen allen Teilnehmern viel Glück und Freude beim Erinnern, beim
Schreiben und beim Lesen!
- Die Redaktion von "Mein Berlin-Blankenburg" - 10. April 2020 -